Meine Beobachtungen beziehen sich auf eine Untersuchung an sechs Schulen der Stadt Hamm (NRW) sowie auf eine jährliche Auswertung der Handschriften der Fünft- und Sechstklässler der Sophie Scholl-Gesamtschule Hamm seit 2010. Die circa 175 Fünftklässler der Sophie-Scholl-GS kommen aus fast allen 28 Grundschulen der Stadt. Insofern kann der Querschnitt als repräsentativ gewertet werden.
Wie schreiben Kinder heute?
Ist Schreibschrift Ballast?
Ist es ein Defizit der Schreibschrift an und für sich, dass sich die Schreibschrift als Gebrauchsschrift (zumindest in NRW) in der Schule nicht durchsetzt, oder liegt eher ein didaktisches Problem zugrunde?
Es ist kein Problem der Schreibschrift, sondern des Schrifttyps VA. Als modulare Schrift, die aus Einzelelementen mit Koppelstrichen besteht, führt sie in der Regel nicht zu einer fließenden, zügigen Schrift und hält einer Beschleunigung nicht stand. Die VA ist keine belastbare Schrift. Dies zeigt sich meistens erst in der weiterführenden Schule.
Die mangelnde Festigung der Schreibschrift ist ferner ein didaktisches Problem, da Automatisierungsprozesse in der Motorik falsch eingeschätzt werden. Es wird so getan, als könne man ein Schriftprogramm aufziehen (Druckschrift in der ersten Klasse) und dieses dann wieder löschen und durch ein anderes (Schreibschrift) ersetzen. Irrig ist auch die Annahme, die Schreibschrift sei eine verbundene Druckschrift, die durch Verbindungsstriche beschleunigt werde (vgl. VA).
Der Umstrukturierungsprozess, wenn Kinder von der Druckschrift auf die Schreibschrift umstellen, wird meines Erachtens ebenfalls unterschätzt. Wie gravierend dieser Eingriff in automatisierte Prozesse ist, kann jeder einmal selbst ausprobieren, indem er nur einen einzigen Buchstaben seiner Handschrift ändert und beobachtet, wie viel Zeit und wie viel Aufmerksamkeit schon für die Änderung dieses einen Buchstabens benötigt wird. Kindern geht es nicht anders. Bei der Umstellung des gesamten Alphabets werden nicht wenige so irritiert, dass die Aufmerksamkeit für den geschriebenen Text verloren geht.
Welche Vorteile bietet die Schreibschrift?
In ihrer gegenwärtigen Vermittlungsform macht die Schreibschrift wenig Sinn, denn intendiert wird – insbesondere mit der VA - lediglich ein „Schreibschrift-Outfit“, ohne sich der strukturellen Wesensunterschiede der Druckschrift und der Schreibschrift sowie der zugrunde liegenden Automatisierungsprozesse bewusst zu sein.
Will man eine Schreibschrift im Anschluss an eine Druckschrift vermitteln, dann kann es dabei nicht einfach um die Änderung des Aussehens der Schrift gehen. Wenn Kinder von der Druckschrift, die im Rahmen ihrer Schreibbedürfnisse in der 1. und 2. Klasse funktioniert, Abstand nehmen sollen zugunsten einer anderen Schrift, dann muss es dafür triftige und auch für die Kinder nachvollziehbare, sinnvolle Gründe geben.
Gerade Linien erzeugen Druck, wenn nicht auf ein schwingendes Grund-
bewegungsmuster zurückgegriffen werden kann. Fließende Bewegungen nehmen
den Druck aus der Hand und erleichtern das Schreiben.
Welche Bedingungen muss eine sinnvolle Einführung der Schreibschrift erfüllen?
Kinder, die eine Schrift – Druckschrift oder Schreibschrift – erlernen, müssen Grundbewegungen beherrschen, die als Basis für eine differenzierte Ausformung der Einzelbuchstaben dienen. Schreibschrift vorbereitende Schwungübungen helfen, gleichmäßige Formen zu erzeugen, die für eine lesbare Schrift unabdingbar sind. Vielen Schriften fehlt heute genau diese Grundkoordination. Betroffene Kinder können keine gleichmäßige Form und Größe der Buchstaben erzeugen und sie nicht im Mittelband anordnen, Zahlen können nicht sicher in einem Rechenkästchen platziert werden.
Völlig zu Unrecht sind Schwungübungen in Misskredit gebracht und für obsolet erklärt worden. Sie sind als Grundvoraussetzung für jedes Schreiben unverzichtbar.
Schreibschrift ist in der gegenwärtigen Praxis Zweitschrift. Ist die Druckschrift einmal automatisiert, kann man sie nicht einfach durch eine Schreibschrift ersetzen. Mit dem Erstschrifterwerb werden motorische Spuren gelegt, die sich tief eingraben und nur mit größter Anstrengung revidiert werden können. Deshalb muss die Schreibschrift, wenn sie denn angestrebt wird, so früh wie möglich eingeführt werden, bevor die Druckschrift automatisiert ist. Insbesondere Mädchen verinnerlichen die Schrift rasch. Ihre Druckschrift bleibt häufig schneller und für sie angenehmer, auch wenn sie eine tadellose Schreibschrift schreiben können.
Eine verspätete Einführung der Schreibschrift führt langfristig nicht zu einer geläufigen Schreibschrift. Die Risiken einer schreibmotorischen Verunsicherung können dann sogar größer sein als der Nutzen.
Schrift erfordert einen Automatisierungsprozess, der unterstützt werden muss. Das Vorstellen der Buchstaben und ihrer Verbindung und ein „Nachspuren“ führen noch lange nicht zu einer Automatisierung. Dazu bedarf es gezielter Übungen und – was oft übersehen wird – der Fokussierung auf den schreibmotorischen Prozess. Kinder können nämlich nicht beides gleichzeitig, sich auf die Schrift und auf den Text konzentrieren. Schrift entwickelt sich eben nicht von selbst durch Texte verfassen. Mangelnde Automatisierung erkennt man z.B., wenn Kinder auch in der fünften Klasse für manche Buchstaben noch keine feste Schreibweise haben und den Linienverlauf je nach Vorgängerbuchstaben neu generieren.
Wird die Schreibschrift nur kurz eingeführt und nicht automatisiert, können sich die Vorteile einer Schreibschrift nicht entwickeln. Es können sogar nachhaltige schreibmotorische Verunsicherungen entstehen mit Folgen für die Buchstaben-erkennung und das Lesen.
Bleibt eine Automatisierung aus, kann sich den Lernenden der Sinn der Schreibschrift nicht erschließen. Nur wenn sie eine Erleichterung des Schreibens spüren und den größeren Gestaltungsspielraum einer verbundenen Schrift, werden sie die Schreibschrift annehmen und nicht als Ballast empfinden.
Die VA erfüllt nicht de Anforderungen einer verbundenen, fließenden Schrift. Sie behindert die Kinder beim Erlernen einer Schreibschrift, weil die künstlichen, scheinbar einfachen Endstriche der Buchstaben eine organische, den Schreibfluss fördernde Verbindung verhindern und "verunglückte Schriften" begünstigen.
Führt die Grundschrift zu einer Schreibschrift?
Die Grundschrift ist eine Druckschrift. Aus ihr entwickelt sich genauso wenig eine Schreibschrift wie aus der Druckschrift, auch wenn ein paar Häkchen zum Verbinden animieren sollen. Nach der Grundschrift kann eine Schreibschrift gelernt werden wie nach der Druckschrift auch:
„Schriftgespräche“ sind in diesem Zusammenhang vielleicht unterhaltsam, aber nicht zielführend. Ebenso wenig ein Experimentieren mit Buchstabenverbindungen. "Selbst erarbeitete" Verbindungen sind Ursache vieler Schriftdefizite.
Druckschrift wird zudem durch einfache Verbindungsstriche nicht schneller! Da spielt es keine Rolle, ob nun alle Buchstaben verbunden werden sollen oder nur einige wie bei der Grundschrift.
Das Verbinden nur einiger Buchstaben sehe ich zudem als Problem. Ich mache die Erfahrung, dass Kinder entweder Druckschrift schreiben oder alle Buchstaben verbinden wollen und sich auch bei schwierigen Verbindungen nicht zu einem Absetzen motivieren lassen. Offenbar verknüpfen sie mit dem Verbinden eine Bedeutungsebene - die Wortebene. Oder aber sie fühlen sich durch die stets zu treffende Entscheidung – Verbinden ja oder nein? – überlastet. (Dass das erforderliche Absetzen in der VA bei linksbogigen Buchstaben nur ganz selten funktioniert, ist vermutlich auch auf dieses Phänomen zurückzuführen.)
Erwachsenenhandschriften, die sich ja fast immer zu teilverbundenen Schriften entwickelt haben, sind elaborierte Handschriften mit einer persönlichen Rhythmisierung. Sie können nicht als Maßstab für Kinderhandschriften gelten, denn man kann nicht etwas rhythmisieren, was man nicht zuvor als Ganzes erfahren hat.
Mein Fazit:
D.h. bei der Erstprägung dürfen sich auf keinen Fall fehlerhafte Schreibweisen einschleichen - auch nicht bei der Druckschrift. Und man muss sich entscheiden, welche Schrift automatisiert werden soll – die Druckschrift oder die Schreibschrift. Ist die Druckschrift nachhaltig automatisiert, wird die Schreibschrift nicht mehr angenehmer und schneller. Umgekehrt wird ein Schreibschriftschreiber in der Druckschrift nicht dasselbe Tempo erreichen.
Und noch eines darf in der aktuellen Schriftdiskussion nicht übersehen werden: Die Handschrift bedeutet den Kindern sehr viel. Sie ist eine Quelle positiver oder auch negativer Selbstwahrnehmung. Sorge um ihre Handschrift begreifen Kinder als Sorge um sie selbst und zeigen sich ausgesprochen dankbar für jede hilfreiche Anleitung. Individuelle Förderung ist gerade im Bereich Schrifterwerb wichtig und sehr wirksam. Dem Anspruch "Kein Kind zurücklassen" wird man jedoch derzeit in diesem Punkt oft nicht gerecht.