Was ist leicht und was ist schwierig beim Schrifterwerb?
Diese Frage möchte ich aus der Perspektive der Schriftkorrektur beantworten. Welche offensichtlichen Schwierigkeiten des Schrifterwerbs sind selbst im 5. Jahrgang in der Handschrift mancher Schüler noch erkennbar? Welche Anforderungen einer geläufigen, gut lesbaren Schrift sind es im Einzelnen, die nicht erfüllt werden konnten? Welche Unterstützung hätte das Kind gebraucht?
Die gerade Linie ist doch die einfachste Form überhaupt! „Ja“ sagen Wahrnehmung und Logik. „Nein“ sagt die Motorik. Für eine gerade Linie braucht man ein Lineal und es ist keineswegs leicht, ihre Länge und Ausrichtung korrekt wiederzugeben. Das trifft für alle geometrischen Formen zu: Sie sind leicht zu erkennen, aber schwer aus der freien Hand zu zeichnen.
Ist Druckschrift denn nicht leicht?
Man muss differenzieren: Sind Druckbuchstaben leicht zu lesen oder leicht zu schreiben? Druckbuchstaben bestehen aus nur wenigen Formelementen, die Kinder leicht erkennen:
> Gerade Linien (waagerecht – senkrecht – schräg)
> Kreise/ Ovale
> Bögen (Halbkreis/ U-Form/ Arkade)
> Punkte
Schwierigkeiten bei den Einzelbuchstaben:
Es bereitet Kindern kaum Schwierigkeiten, die genannten Grundelemente abzubilden. Ihre Kombination zu einer neuen Form, einer Buchstabenform, ist schon schwieriger. So könnte man meinen, T, H, K, E oder D seien leichte Buchstaben. Kinder erkennen sie auch leicht, schreiben sie aber häufig mit Liniendoppelungen, ohne abzusetzen. Das gibt ihnen Koordinationssicherheit. So prägen sie sich umständliche und schwer zu beschleunigende Schreibweisen ein.
Bei den folgenden Buchstaben wird der
Unterschied zwischen Abmalen und Schreiben besonders deutlich:
Die allgemeine Formlogik entspricht nicht der "Schriftlogik".
Der intuitive Zugang zur Formfindung der Buchstaben ist oft verhängnisvoll, denn
viele Kinder tendieren dazu,
Einige Kinder entwickeln für manche Buchstaben gar keine konstante Schreibweise. So werden dann z.B. i oder s mal oben und mal unten begonnen.
Unterrichtende haben bei der Druckschriftvermittlung das Problem, dass der tatsächlich gewählte Bewegungsablauf (z.B. bei einem t) am vollendeten Buchstaben oft nicht direkt erkennbar ist und zudem die von den Kindern intuitiv gewählten "Konstruktionen" nur schwer korrigierbar sind.
Im folgenden Ausschnitt sind als Beispiel weit verbreitete Linienführungen bei den Buchstaben a-b-d-f-g zu sehen, die schwer zu kontrollieren sind und immer wieder zu entgleisenden Druckschriften führen. Diese Bewegungsrichtungen der Druckschriftbuchstaben a-d-g werden dann meistens in Schreibschriften übertragen und richten dort Schaden an - insbesondere "gerollte" Formen bei o, a, d, g.
Video wird in Kürze wiederhergestellt!
Dieses Video ist im Zeitraffer dargestellt. Wenn dieser Schüler (Klasse 9) langsam schreibt, kann er mit diesen Bewegungsrichtungen einigermaßen koordiniert auf der Schreiblinie schreiben. Schreibt er aber in dem Tempo, wie es auf dem Video zu sehen und im Alltag erforderlich ist, verliert er die Kontrolle und seine Schrift sieht so aus:
Es ist erstaunlich, für wie viele Schüler die linksbogigen Buchstaben a, d, g, o, q in der Formgebung nichts miteinander zu tun haben. Sie werden nicht aus dem c entwickelt. Sie können in der Schrift nicht "gleichgeschaltet" und somit nur unzureichend koordiniert werden.
Schwierigkeiten bei der Schriftkoordination der Druckschrift
Jeder Buchstabe für sich hat meistens eine identifizierbare, wenn auch nicht konstante Form. Das Produzieren von Einzelbuchstaben reicht aber nicht aus, um zu einer geläufigen, gut lesbaren Schrift zu finden.
Die Einzelbuchstaben müssen koordiniert sein im Mittelband, sonst hangelt man sich beim Lesen von Buchstabe zu Buchstabe und die Lesbarkeit wird stark beeinträchtigt.
Nebenbei: Für das Kind bedeutet bedeutet diese Beeinträchtigung zudem, dass es Gefahr läuft, auf der Ebene des Buchstabierens zu verharren. Die Entwicklung der Lesefähigkeit wird dann durch das eigene Schreiben gehemmt.
Die folgende Übersicht zeigt, wie unterschiedlich die Ansatzpunkte der einzelnen Kleinbuchstaben gewählt werden müssen und welche besonderen Probleme damit verbunden sind.
Die mangelnde Beherrschung der Druckschrift, die sich in der Schrift dieses Zweitklässlers zeigt, ist ganz typisch. Diese Defizite zeigen sich genauso in schwer lesbaren Druckschriften von Fünftklässlern. Die Probleme lösen sich nicht auf, sondern sie haben bei beschleunigtem Schreiben gravierendere Auswirkungen.
Schwierig zu erlernen ist
Die Druckschrift ist keineswegs eine vereinfachte Schreibschrift!
Ihre größte Schwierigkeit besteht in der Beherrschung der Buchstabengröße und der Distanz zur Schreiblinie. Viele Kinder haben Schwierigkeiten, den Buchstabenbeginn so zu kalkulieren, dass die Größe des Buchstabens und seine Positionierung auf der Schreiblinie koordiniert wird.
Es ist leicht, rudimentäre Druckschriftkenntnisse zu erwerben und so Lesbares zu produzieren. Es ist aber keineswegs leicht, die Druckschrift zu einer flüssigen, gut lesbaren Handschrift zu machen.
Progression einer Druckschriftkorrektur (siehe Unterseite)
Die Schreibschrift ist in der gegenwärtigen Unterrichtspraxis Zweitschrift. Der Schreibschrifterwerb startet somit unter erschwerten Bedingungen, denn ein Schrifterwerb hat zuvor über die Druckschrift bereits stattgefunden. Laut und Form des Buchstabens sowie die Bewegungen seiner Schreibweise sind bereits geprägt und bilden eine feste Einheit. Lesen und Schreiben sind schon an eine weitgehend automatisierte Kodierung und Dekodieren der Buchstabeneinheiten geknüpft.
Eine neue Schrift erfordert nun ein Umlernen – in der Motorik sowie in der Wahrnehmung. Man kann deshalb sagen: Die Schwierigkeit des Schreibschrifterwerbs liegt nicht in erster Linie im Erlernen, sondern im erforderlichen Umlernen. Und bekanntlich erfordert ja jedes Umlernen mehr Energie als ein Neulernen.
Diesen anstrengenden und manchmal auch riskanten Prozess beschreiben Grundschullehrer mitunter so: „Am Ende der ersten Klasse können fast alle Kinder schon gut lesen und schreiben, und dann kommt die Schreibschrift und alles „geht wieder den Bach runter“.“
Wenn es nur darum geht, den Einzelbuchstaben ein „Schreibschrift-Outfit“ zu geben und sie komplizierter zu gestalten, erweist sich die Schreibschrift in der Tat nicht als Bereicherung sondern als Hemmnis.
Es kommt also nicht von ungefähr, dass die Schreibschrift oft "stiefmütterlich" behandelt wird. Sie ist das "Stiefkind" in der Rangfolge der Schriften und bereitet in der Tat Probleme. Ihre Vermittlung ist zeitintensiv, denn sie erfordert ein strukturelles Umlernen. Mit dem Zeigen der neuen Buchstabenform und einem Nachspuren derselben kann man eine Schreibschrift nicht nachhaltig installieren, denn die Schreibschrift erfordert die Integration einer neuen Bewegungsrichtung.
Gelingt es in einer verbundenen Schrift nicht, die Hauptbewegungsrichtung von der Abwärtsbewegung (der Druckschrift) in eine Aufwärtsbewegung "umzupolen", bleibt die Schreibschrift unkoordiniert und wird nicht flüssig. Die Vereinfachte Ausgangsschrift scheitert nicht zuletzt deshalb so häufig, weil der Druckschriftrhythmus bei einer reinen Verkopplung von Druckbuchstaben dominant bleibt. (vgl. dazu die Seite: Defizite der VA)
Fragt man Zweitklässler, wie denn eine Schreibschrift aussieht, malen sie eine Schleifen- oder eine Girlandenbewegung an die Tafel. Sie nehmen ganz intuitiv die tragenden und prägenden Elemente der Schreibschrift wahr.
Und in der Tat bilden diese beiden Grundbewegungen des Schreibens die "Trägerwelle", die Kette, an der alle Buchstaben angeknüpft werden. Grundbewegungen, früher auch Schwungübungen genannt, schaffen ein Grundgefühl eines Schreibflusses und ein Gefühl für Größen und Abstände.
Grundbewegungen lassen sich gezielt trainieren und
erleichtern die Schriftkoordination.
Grundbewegung Nr. 1 und Nr.2 sind die wesentlichsten, weil sie das "Rollen" der Schrift auf der Schreiblinie sowie die Buchstabenabstände und die Größendifferenz definieren. Die Größendifferenz ist insbesondere für die Ausprägung des Mittelbandes unerlässlich. Die mangelnde Ausprägung des Mittelbandes und die fehlende Wahrnehmung dieser Bedeutungsebene ist bei vielen Druckschriften zu beklagen. Eine geschlossene Wahrnehmung des Wortes - auf einen Blick - wird dann erschwert oder gar verhindert. In einer verbundenen Schrift, d.h. wenn die Stiftspitze auf dem Papier bleibt, ist das Gefühl für Größen leichter zu erwerben.
Grundbewegung Nr. 3 ist wegen des gebogenen Deckstrichs (= Zurückfahren auf derselben Linie) eine schwierige Grundbewegung, die aber für die Anschlüsse der linksbogigen Buchstaben unerlässlich ist. Wird diese Bewegung nicht beherrscht (oder wie in der VA nicht als verbundene Form vermittelt), kann die Schreibschrift nicht funktionieren.
Die 4. Grundbewegung ist die Arkadenform des fortlaufenden
Diese Bewegung ist nicht in erster Linie für das "Laufen" der Schrift auf der Schreiblinie wichtig, sondern für die Beherrschung der senkrechten Deckstriche (hinunter zur Schreiblinie und wieder hinauf). Das Üben dieser Grundbewegung ist auch für Druckschriften hilfreich, denn offene Formen des r, des h, m, n zeugen oft von dieser Koordinationsschwierigkeit.
Die Grundbewegungen des verbundenen Schreibens sind auch für Druckschriften eine gute Koordinationshilfe!
Ein weiterer Vorteil der Schreibschrift gegenüber der Druckschrift liegt darin, dass die Schrift einem eindeutigen Linienverlauf folgen muss.
Das Problem, dass jeder Buchstabe mehrere Ansatzpunkte bietet wie bei der Druckschrift, gibt es hier nicht. Das einheitliche Generieren der linksbogigen Buchstaben (c,a,d,g,o,q) beispielsweise, die Gleichschaltung ihrer Bewegungs-richtungen, ist in der Schreibschrift leicht zu vermitteln. In der Druckschrift schafft die Koordination dieser Buchstaben erfahrungsgemäß große Probleme.
Die Entwicklung der Buchstaben von der Schreiblinie aus kommt dem intuitiven Zugang der Kinder zur Formfindung entgegen. In der Druckschrift wählen viele Kinder fälschlicherweise immer wieder diesen für die Druckschrift kontraproduktiven Weg.
In der Schreibschrift können Winkel und gerade Linien, die der menschlichen Motorik ja eigentlich nicht entsprechen, in Kurven umgewandelt werden. Das "Baukastenprinzip" der Druckschrift, das zu einer Zersplitterung und Auflösung der Buchstaben- und Worteinheiten führen kann, wird durch fließende Bewegungen verhindert.
Aufbauend auf den Grundbewegungen des verbundenen Schreibens habe ich mein Schrifttraining entwickelt und ebenso einen Schreibschriftlehrgang für die Grundschule.
1. Silben und Wörter werden leichter als Einheit erfahren
„Wenn ich Schreibschrift schreibe, sehe ich besser, was zusammen gehört!“ So beschreibt ein Fünftklässler den Vorteil des verbundenen Schreibens. Die fließende Bewegung schafft eine anderes Gefühl für Zusammenhänge.
Bei der Druckschrift "hangeln" sich manche Kinder beim Schreiben wie beim Lesen von Buchstabe zu Buchstabe; jeder Buchstabe steht für sich. Dass der nächste Buchstabe erst "organisiert" wird, wenn der Vorgängerbuchstabe beendet ist, erkennt man, wenn Kinder vor bestimmten Buchstaben, z.B. einem t oder einem s, immer leicht zögern, weil sie diesen Buchstaben je nach Vorgängerbuchstaben variieren und entsprechend an unterschiedlichen Stellen beginnen.
In der Schreibschrift beeinflussen sich die Buchstaben gegenseitig und verschmelzen zu einer größeren Einheit. So wird das vorausschauende und das "überschauende" Schreiben gefördert.
2. Schreibschrift passt besser zum Sprachfluss
Beim Schreiben wird nicht nur der Stift bewegt, nicht nur die Hand, der ganze Körper ist einbezogen. Anstrengung beim Schreiben z.B. erzeugt nicht nur Verspannung in der Hand, sondern ist auch an der Sitzhaltung und den Gesichtszügen ablesbar. Insbesondere Mund und Zunge reflektieren Anspannung und manchmal auch direkt die auszuführende Bewegung.
Wenn Kinder beginnen zu schreiben, sprechen sie das Geschriebene laut oder leise mit. Dieses Mitsprechen von Silben und Wörtern ist eine fließende Bewegung. Die Bewegungen der Druckschrift passen nicht dazu, denn sie fließen nicht. D.h. es ist schwierig, die Mund- und die Hand-Bewegungen zu koordinieren, z.B. die Silben "ho-len" langsam mitzusprechen und dabei Einzelbuchstaben zu schreiben .
3. Motivationale Vorteile
Die Druckschrift ist ein eher neutrales, unpersönliches Medium und bietet wenig Möglichkeiten der individuellen Gestaltung. Die Schreibschrift hingegen „trägt eine Handschrift“. Sie wird von Kindern viel bewusster entwickelt und als eigene Handschrift wahrgenommen. Wenn Kinder eine geübte Schreibschrift schreiben, sind sie nach meiner Erfahrung oft „ganz bei sich“, schreiben mit Sorgfalt und schätzen den Akt des Schreibens selbst. Inhalt und Form gehören zusammen. Wertschätzung des Schreibens ist immer auch Wertschätzung des Geschriebenen.
Die Druckschrift betont den funktionalen Aspekt des Schreibens, Schreibschrift hingegen den persönlichen Ausdruck. Der persönliche Ausdruck dessen, was man gestaltet, unterstützt motiviertes Handeln - auch das Lernen.
Näheres dazu auf der Seite "Handschrift als persönliche Ausdrucksform".