Die Diskussion um die richtige Schrift ist aktuell wieder in vollem Gange. Nachdem die Vereinfachte Ausgangsschrift als große Schrifterleichterung propagiert wurde und nun die langfristigen Ergebnisse sichtbar werden, wird die Forderung nach einer neuen Schrift laut. Der Grundschulverband fordert nun die Grundschrift, eine Druckschrift mit kleinen Häkchen, die die Schüler selbst zu einer teilverbundenen Schrift entwickeln sollen.
Damit steht eine neue Verheißung im Raum, der man nach den Erfahrungen mit der VA nicht mehr gutgläubig folgen kann.
Eine sehr detaillierte und kritische Auseinandersetzung mit den didaktischen Begründungen des Grundschrift-Konzepts finden Sie auf der Homepage des Diplompsychologen Götz Taubert:
Die Grundschrift ist eine Druckschrift - nicht mehr und nicht weniger! Die Häkchen bzw. kleinen Aufwärtsbögen an einigen Buchstaben sind für die Druckschrift nicht hinderlich, sondern durchaus vorteilhaft. Sie führen die Bewegung wieder in die richtige Richtung zum Druckschriftansatz an oberen Mittellinie. Eine Schreibschrift wird aber keineswegs daraus.
Um die Verbindungsmöglichkeiten, die Schüler sich selbst erarbeiten können, zu veranschaulichen, sei hier einmal das Alphabet aufgeführt.
Zunächst sind die unproblematischen Buchstaben dargestellt, die sich wie in der VA mit einem einfachen Verbindungsstrich verknüpfen lassen.
(Das z lässt sich zwar in dieser Form verknüpfen, bietet aber keine fließenden Übergänge und damit keinen schreibmotorischen Vorteil.)
Hier nun ein Blick auf problematische Buchstabengruppen,
zunächst auf die Buchstaben, die an der Oberlinie beginnen.
Bittet man Kinder, Buchstaben zu verbinden, so führen sie eine Linie vom Ende eines Buchstabens zum Startpunkt des nächsten Buchstabens. Verbinden bedeutet für Druckschriftschreiber, den gewohnten Luftsprung zwischen den Buchstaben als Linie auszuführen. Das ist übrigens zunächst keineswegs eine Erleichterung!
Das Ende des Buchstabens liegt in der Grundschrift in den meisten Fällen am Ende des Häkchens auf der Schreiblinie. Folgende Buchstaben beginnen an der Oberlinie und eine Verbindung würde dorthin führen:
Das b und das f lassen sich überhaupt nicht ohne Umformung verbinden, bei h,k und l muss die Verbindung per Schlaufe erklärt und geübt werden. Diese Möglichkeit erschließt sich nicht von selbst. Unproblematisch ist in dieser Gruppe nur das t.
Die linksbogigen Buchstaben stellen schon in der VA neben e und s die größte Problemgruppe dar. Auch die Grundschrift kann dieses Problem nicht lösen:
Die Buchstaben r und s:
Auch diese beiden Buchstaben sind typische Problembuchstaben der VA, weil der einfache Verbindungsstrich nicht funktioniert. Das r muss umgeformt werden, um eine Anschlussmöglichkeit zu bieten. Das s wurde in der VA zu einem Schleifen-s umgestaltet, das immer wieder zu Deformationen führt. Die Grundschrift bietet hier überhaupt keine sinnvollen Verknüpfungsmöglichkeiten:
Die Buchstaben v und w sind ebenfalls schon in der VA sehr problematische Buchstaben, weil der einfache Verbindungsstrich nicht reicht und der notwendige zusätzliche Verbindungsstrich (das "Ärmchen" zum nächsten Buchstaben) oft vergessen wird. Das x wird schon in der Druckschrift oft unterschiedlich ausgeführt und bietet verschiedenste Verknüpfungsmöglichkeiten, von denen nur einige wenige funktionieren.
Der wichtigste Buchstabe ist das e, weil er eine Vorkommenshäufigkeit von über 17% in Fließtexten hat (laut Wikipedia). In der VA bereitet dieser Buchstabe in Form des Köpfchen-e die allergrößten Probleme. In der Grundschrift ist dieser Buchstabe etwas vorteilhafter, weil er den problematischen Anschluss an der oberen Mittellinie nicht nahelegt. Wird das Grundschrift-e einfach mit einer kleinen Geraden verbunden, ergibt sich jedoch auch hier kein schreibmotorischer Vorteil gegenüber der Druckschrift. Immerhin lässt sich aber von dieser Form leichter zum einfachen Schleifen-e überleiten als vom Köpfchen-e der VA.
Fazit:
Von den 26 Buchstaben lassen sich 9 relativ leicht mit Verbindungsstrichen verknüpfen, so wie es in der VA auch der Fall war. Das e und die Buchstaben h, k,l sind mit relativ geringem Aufwand umformbar, bedürfen aber der Anleitung.
Die andere Hälfte der Buchstaben ist nicht leicht umformbar. Hier bedarf die Schreibschrift der gezielten Anleitung und des Trainings. Kinder können nicht selbst zu sinnvollen Verbindungen finden.
Sie können nicht wissen, warum und wie sie Buchstaben verbinden sollen. Ihnen erschließt sich weder Form noch Sinn, wenn sie keine Anleitung haben und den Bewegungsvorteil, das Fließen der Schrift, nicht spüren. Zur Illustration hier noch einmal die Schreibschriftversuche von Fünftklässlern, die ihren Schreibschriftlehrgang nur vage erinnern und versuchen, Verbindungen zu rekonstruieren:
Dieses Beispiel zeigt, wie ratlos Kinder sein können, die überhaupt noch keine Vorstellung von Buchstabenverbindungen haben.
Die Grundschrift ist eine Druckschrift, aus der Kinder keine verbundene, auch keine teilverbundene Schrift selbständig entwickeln können, denn sie brauchen Anleitung und Training. Das Verbinden nur einiger Buchstaben wird nicht funktionieren, denn nach meiner Erfahrung verbinden Kinder alle Buchstaben eines Wortes oder keinen. Sie schreiben stets verbunden oder unverbunden. Eine Unterbrechung und Rhythmisierung der Schreibschrift entsteht erst bei geübten Schriften. Für Schreibanfänger ist die ständig zu treffende Entscheidung "Verbinden - ja oder nein?" eine Belastung!
Nach einem Experimentieren werden die Kinder zur Druckschrift zurückkehren. Die Schreibschrift bleibt so nur ein Versprechen, das Eltern und Öffentichkeit zunächst beruhigt.
Meine Position zum Thema "Schreibschrift" hier in FORUM-SCHULE .
Ich vertrete damit eine Gegenposition zum Grundschulverband:
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE berichtete am 11.05.14 ausführlich über die aktuelle schrift-didaktische Diskussion (Beiträge als Link s.u.) und veröffentlichte dazu meinen Leserbrief am 18.05.14:
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Unter den Überschriften „Weg mit der Schreibschrift!" und „Kinder können sich Schreiben nicht selbst beibringen"' berichtete Christian Füller in unserer vorigen Ausgabe (11. Mai) über das Vorhaben, an Grundschulen die Schreibschrift abzuschaffen und durch eine Grundschrift zu ersetzen. Dazu erreichten uns viele Briefe unserer Leser, von denen wir einige hier abdrucken.
Mit Herz und Hand
Den Beiträgen ist es zu verdanken, dass der Bedeutung der Handschrift für das schulische Lernen angemessene Beachtung geschenkt wird. Die digitale Alltagskommunikation hat zu einer Geringschätzung der Handschrift und einer Vernachlässigung ihrer Vermittlung geführt. Handschrift ist und bleibt das Medium der Aneignung der Schriftsprache - sie verbindet Inhalt und Form mit der eigenen Motorik und Wahrnehmung. Gelernt wird immer noch mit „Kopf, Herz und Hand", erst dann mit „Kopf, Herz und Laptop".
Wie sehr Kinder, die nur mit Mühe und unleserlich schreiben können, darunter leiden, erlebe ich als Lehrerin an einer weiterführenden Schule täglich. Dabei haben die meisten keineswegs motorische Handicaps - auch gute Zeichner sind betroffen. Ihre Handschriften sind völlig unkoordiniert, weil die Einzelbuchstaben mit abenteuerlichen Linienverläufen geschrieben oder verbunden werden. Es handelt sich um „selbst erarbeitete" Schriften. Eine Gesamtkoordination der Schrift kann zudem nicht wirksam werden, wenn die Kinder sich von Buchstabe zu Buchstabe „hangeln". Eine verbundene Handschrift überwindet die Buchstabengrenzen nicht nur motorisch leichter, sie lenkt auch die Wahrnehmung stärker auf das Wort als Einheit. Ob Druckschrift- oder Schreibschrift: Kinder brauchen eine professionelle Anleitung und gezielte Übung! Wird sie ihnen vorenthalten, leidet nicht nur die Schrift.
Maria-Anna Schulze Brüning, Hamm
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Grundschrift ist Druckschrift, auch wenn sie an einigen Buchstaben kleine Häkchen hat. Versieht man Druckbuchstaben mit Verbindungslinien, so wird die Schrift dadurch zunächst keineswegs schneller – im Gegenteil, sie wird zunächst langsamer, weil etwas Neues hinzugefügt wird und Wahrnehmung sowie bereits automatisierte Schreibbewegungen verändert oder ergänzt werden müssen. Schreibschrift ist nicht verkettete Druckschrift, sie funktioniert grundsätzlich anders. Experimentieren mit Buchstabenverbindungen führt zu keinerlei Automatisierung und oft sogar in die Irre. Erst durch korrektes, gezieltes Training wird die verbundene Schrift schneller und sie ergibt auch nur dann einen Sinn.
Kinder sollen sich mit der Grundschrift die verbundene Schrift selbst erarbeiten. Schon die Druckschrift weist bei vielen Kindern selbst erarbeitete Linienführungen aus, die sich auf den Schreibfluss und die Koordination der Schrift fatal auswirken (vgl. Schwierigkeiten des Druckschrifterwerbs). Bei der Schreibschrift ist das Problem noch komplexer. Die Vereinfachte Ausgangsschrift war ja bereits angetreten, die Verbindungen der Schreibschrift „ganz einfach“ mit einem aufwärts führenden Endstrich zu lösen. Das hat die Schrift vieler Kinder aus der Bahn geworfen. Und nun sollen die Kinder selbst intelligentere Lösungen finden als seinerzeit die Schriftdidaktiker?
Kinder wissen nicht, wie und warum sie Buchstaben verbinden sollen:
Die Häkchen an den Druckbuchstaben werden nicht zu einer verbundenen oder teilverbundenen Schrift führen. Die Grundschrift hat einen Haken - die Häkchen. Sie geben nur vor, eine Art Schreibschrift zu initiieren.
Fazit:
Worum geht es in der Diskussion pro und contra Grundschrift?
Die Grundschrift ist eine Druckschrift und als solche nicht zu bemängeln. Aus einer Druckschrift eine Schreibschrift zu machen, ist jedoch kein "Kinderspiel". Daran ändert auch eine Druckschrift namens Grundschrift nichts.
All die Autoren, die titeln "Weg mit der Schreibschrift" (s.o.) oder ähnlich, spüren intuitiv, dass an dem Versprechen des Grundschulverbandes, aus ein paar kleinen Häkchen an Druckbuchstaben werde nun plötzlich eine Schreibschrift, etwas faul ist. Anders als der Grundschulverband die Diskussion führen möchte, geht es tatsächlich um die Abschaffung der Schreibschrift.
Nun könnte man argumentieren, dass man es doch den Schulen oder den Schülern selbst überlassen könne, ob sie eine Schreibschrift lehren bzw. lernen wollen oder nicht. Vergessen wird dabei, dass Kinder, die nur eine Druckschrift gelernt haben, in der Regel eine Schreibschrift auch nicht lesen können. Das heißt, um mit ihnen schriftlich zu kommunizieren, müssen sich alle anderen an die Druckschrift anpassen. Die Schreibschrift würde damit aus dem Schulalltag verbannt und faktisch abgeschafft.
Zu den Hintergründen der schriftdidaktischen "Innovationen" informiert Ute Andresen:
Handschreiben hat im Computerzeitalter keinen Platz mehr, meinen all diejenigen, die nur die Funktionalität der Kommunikation im Blick haben.
Schreiben ist jedoch mehr als Tastaturbedienung. Schrift ist das Medium der Aneignung der Schriftsprache; sie bringt Motorik und Wahrnehmung in Einklang. Dr. Werner Kuhmann von der Universität Wuppertal erklärt den grundlegenden Unterschied zwischen Tippen und Handschreiben:
Verschiedene Aspekte zu den Lernvorteilen, die die Schreibschrift bietet,
fasst Matthias Heine in einem Artikel in der WELT vom 23.06.14 zusammen:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 08.05.14 (Nachrichten)
Lob der Handschrift
Vorbei die Zeit, als noch Schönschriftnoten verteilt wurden. Heute können Kinder nach Ansicht mancher Lehrer und Eltern nicht früh genug an den Umgang mit der Computertastatur gewöhnt werden. Doch nun berichtet die New York Times über Studien der Psychologin Virginia Berninger von der University of Washington an Schülern der Klassen zwei bis fünf. Demnach schrieben die Kinder mit der besseren Handschrift nicht nur zuverlässig mehr, sondern auch kreativer. Hirnscans ergaben zudem bei den schönschreibenden Fünftklässlern eine höhere Aktivität des Arbeitsgedächtnisses. Es gibt außerdem Hinweise darauf, das Tippen, Schreiben von Druckbuchstaben und kursives Schreiben unterschiedlich verarbeitet werden. Berninger vermutet sogar, dass Kursivschreiben die Fähigkeit zur Selbstkontrolle besser trainiert als andere Schreibtechniken.
Dass die Bedeutung der Schreibmotorik für die Aneignung der Schriftsprache vielfach unterschätzt wird, belegen auch weitere neuere Studien:
Dass Schreiben mit der Hand die Erinnerung unterstützt, stellten Wissenschaftler bei Studenten fest. Handschriftliche Notizen führten zu einem besseren Verständnis des Gelernten.
Die Frankfurter Allgemeine und die Stuttgarter Zeitung widmeten sich am 10./11.05. 2014 der Handschriftproblematik.
Im Blog von Christian Füller auch ein Kommentar von mir mit dem Titel:
Vorher nichts erprobt und nachher nichts evaluiert