Die vom Grundschulverband propagierte "Grundschrift" ist eine Druckschrift, aus der durch Anhängen kleiner Häkchen keine Schreibschrift wird. Denn die Kinder sollen selbst erproben, wie sie Buchstaben verbinden können. Es ist zu erwarten, dass die Kinder an der Selbsterarbeitung der Schreibschrift ohne Anleitung und Übung scheitern werden. Nach einer Experimentierphase werden sie wieder auf die Druckschrift zurückgreifen müssen. Die Schreibschrift wird durch die Grundschrift nur noch pro forma zum Unterrichtsgegenstand erklärt, faktisch wird sie abgeschafft.
Der weitaus größte Teil der Schülerschaft schreibt heute Druckschrift. Eine zunehmende Zahl der Fünftklässler beherrscht die Schreibschrift gar nicht oder nur rudimentär. Dies lässt auf eine eher halbherzige Einführung der Schreibschrift schließen. Aber auch diejenigen, die eine gute oder unauffällige Schreibschrift schreiben, haben diese oft noch nicht ausreichend automatisieren können und schreiben zu langsam.
Zudem ist der Ersterwerb der Buchstaben über die Druckschrift prägender als angenommen. Vor allem die Schreibmotorik der Mädchen scheint sehr schnell gefestigt zu sein. Ihr Schrifttempo bleibt meistens in der Druckschrift schneller, auch wenn die Schreibschrift ab dem 2. oder 3. Schuljahr geübt wurde.
Druckschrift ist Einheitsschrift. Das zeigen die obigen Schriftproben von zwanzig Mädchen aus zwei Parallelklassen aus dem 9. Jahrgang. Die Schriften sind teilweise - insbesondere unter Freundinnen - so identisch, dass die Schülerinnen ihre eigene Schriftzeile nur mit größter Mühe identifizieren können. Man kann also sagen:
Die Handschrift trägt keine Handschrift mehr.
Die Identifizierbarkeit handschriftlicher Dokumente ist oft nicht mehr gegeben. Die Gültigkeit von Unterschriften oder z.B. Testamenten dürfte damit in Frage gestellt sein.
So sieht die typische Einheitsdruckschrift aus:
- große bis sehr große Schriften
- Ausprägung der Buchstaben: dick und bauchig
- Einheitsgröße der Buchstaben, minimale Ober- und Unterlängen
- geringe Buchstabenabstände
In manchen Schriften ist zu beobachten, dass die Druckbuchstaben sich stets berühren, wodurch die Lesbarkeit stark beeinträchtigt wird:
Den wesentlichsten Aspekt des Schreibschriftschreibens habe ich in einem kurzen Leserbrief zu dem Kommentar "Schreiben macht klug" von Matthias Heine (Die WELT, 13.03.15) zusammengefasst.
Die längeren geschwungenen Bewegungssequenzen der Schreibschrift können den individuellen Rhythmus und persönlichen Duktus besser entwickeln und widerspiegeln.
Wie die eigene Stimme ist die Handschrift eine persönliche Ausdruckform und keineswegs ein neutrales Medium. Die Handschrift gehört zur eigenen Person und wird als persönliches Eigentum empfunden. Darum ist es so wichtig, Kindern zu ermöglichen, ihre Handschrift als Teil ihrer selbst akzeptieren zu können und sich darin zu erkennen. Wird Kindern die Handschrift so vermittelt, dass sie sie am liebsten verstecken würden, beraubt man sie einer wichtigen Quelle der Selbstwahrnehmung, des Selbstbewusstseins und der Kreativität.
Kreisende und schaukelnde Bewegungen bereiten Freude – nicht nur auf dem Jahrmarkt, auch auf dem Papier. Insbesondere bei der Schreibschrift empfinden Kinder Freude am Akt des Schreibens selbst. Ich erlebe Kinder, die genau aus diesem Grunde die Schreibschrift in der Klasse 5 noch lernen möchten. Ein Schüler sagte wörtlich: „Ich will, dass alles rund ist und so fließt.“
In der Bewegung des Schreibens können Kinder sich selbst vergessen – wie beim Malen oder Tanzen. Sie sind dann ganz „bei sich.“
Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Ein marokkanischer Schüler (5.Klasse) hatte in seinem Schrifttrainingsheft sehr wenig gearbeitet, obwohl seine Schrift einiger Korrekturen bedurfte. Auf meine Nachfrage, warum sein Heft noch fast leer sei, antwortete er, er habe sich das alles aufgespart für die Ferien in Marokko. Dort nehme er zum ersten Mal am Ramadan teil. Er möchte dann gern etwas zum Schreiben haben, um den Hunger vergessen zu können.
Ein anderer Schüler hatte hingegen sein Schrifttrainingsheft in kürzester Zeit vollständig ausgefüllt. Seine erstaunliche Erklärung: „Ich spiele sonst den ganzen Tag Computerspiele. Ich habe Angst, dass ich irgendwann den Spaß daran verliere und dann gar nichts mehr habe, woran ich Spaß haben kann. Da habe ich mir das Schrifttraining genommen, um nicht Computer zu spielen.“
Dieses „Bei-sich-sein“ beim Schreiben mit der Hand beschreibt auch die Schriftstellerin Cornelia Funke:
Handschrift hat demnach auch Einfluss auf die Kreativität der Gedanken:
Was ist „embodiment“? Diese neuere These aus der Kognitionswissenschaft geht davon aus, dass das Bewusstsein einen Körper benötigt und eine physikalische Interaktion voraussetzt. Dieser abstrakte Gedanke wird sehr anschaulich in dem Ausdruck „sich etwas einverleiben“. Der syrischstämmige Schriftsteller Rafik Schami erzählte in einer Diskussionsrunde ( Link s.u.), dass seine Eltern ihm glücklicherweise auch die lateinische Schrift beigebracht haben und dass er sich mit ihrer Hilfe die deutsche Sprache einverleibt habe, indem er ganze Romane wie „Die Buddenbrooks“ mit der Hand abschrieb. Für Shami hat Handschrift eine ganz besondere Bedeutung und er verweist noch auf einen weiteren Aspekt der Schreibschrift: Das Verbinden der einzelnen Buchstaben vermittle den Kindern ein Gefühl von Musikalität. „Und wir wissen alle“, so der Schriftsteller, „dass Musikalität und Mathematik Zwillingsschwestern sind.
Alle Dinge, die uns umgeben und die uns wichtig sind, werden ästhetisch gestaltet. Die Handschrift gehört für die meisten Menschen dazu. Kinder gestalten ihre Handschrift ganz bewusst. Und es sind keineswegs nur die Mädchen, die einzelne Buchstaben individuell gestalten und ganz genau wissen, welche Form des Buchstabens sie bevorzugen. So taucht bei den Jungen gelegentlich wieder das verschnörkelte H de Lateinischen Ausgangsschrift auf. Ein Schüler erklärte mir, er habe dieses H „gefunden“. Er fand es schön und war stolz, es schreiben zu können. Eine andere Schülerin zeigte mir ihr italienisches r , das sie von ihrer Tante „mitgebracht“ hatte.
Handschrift ist über die individuelle Schriftgestaltung hinaus ein hervorragendes Objekt ästhetischer Gestaltung und eröffnet unzählige Möglichkeiten, Inhalt und Form zu immer neuen Botschaften verknüpfen.
Übrigens: Selbst am PC ist die Schrift kein neutrales Medium. Nicht von ungefähr gibt es unzählige Schrift-Fonts und Word-Art.